Kindheit: Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie
Eigentlich kann es das gar nicht geben, ein Buch, das absolut jeden zu begeistern scheint. Ich bin mit einiger Skepsis an die Sache herangegangen. Und jetzt schreibe ich die 100ste euphorische Rezension? Nein, wir machen das anders. Ich schlage das Buch wahllos auf.
„Menschen, die so eine sichtbare, unzulässige Kindheit haben, innerlich wie äußerlich, nennt man Kinder, man kann sie behandeln, wie man will, weil man nichts von ihnen zu befürchten hat. Sie besitzen Waffen und keine Masken, es sei denn, sie sind besonders pfiffig. Ich bin ein solches pfiffiges Kind, und meine Maske, auf die ich immer gut aufpasse, damit sie mir niemand wegreißt. Ist die Dummheit.“
Tove Ditlevsen ist in ein Milieu hineingeboren, das mit Poesie nichts anfangen kann. Es zählt, was zum Überleben wichtig ist bei Arbeiterfamilien in Kopenhagen, da ist keine Zeit für schöne Worte.
„Dunkel ist die Kindheit, und sie winselt wie ein kleines Tier, das man in den Keller eingesperrt und vergessen hat.“
Sie erzählt von ihrer Kindheit in so fein gesetzten Worten, dass man sich fast jeden zweiten Satz notieren möchte. Es ist ein trauriges Buch, aber auch philosophisch und poetisch.
Ab und an werden dezent und elegant historische Begebenheiten eingeflochten, die die 20er Jahre illustrieren. Dieses Buch ist ganz viel auf einmal, eine Biographie, ein Schicksalsbericht, eine Milieustudie, historischer Roman und nebenbei noch blanke Poesie.
Ich bin beeindruckt und begeistert.
Dieser autofiktionale Roman fällt auf durch sein ungewöhnliches Format, den blauen Buchschnitt und das collageartige Cover. Da es überall auf den sozialen Netzwerken zu sehen war, musste ich einfach meine Neugier befriedigen.
In der Geschichte geht es um die Kindheit von Tove, die in den 20er Jahren im Arbeiterviertel von Kopenhagen aufwächst. Während die Erwachsenen malochen, hat Tove nur einen Traum: Sie möchte Dichterin werden. Aber dürfen Fraun das auch?
Ehrlich gesagt war mir gar nicht bewusst wie man auf so wenigen Seiten so viel sagen und den Leser damit berühren kann.
Nahezu chronologisch berichtet Tove als Ich- Erzählerin aus ihrem Leben als Arbeiterkind, das von Hunger geprägt ist. Die Erwachsenen sind mit sich selbst beschäftigt. Die Kinder haben zu funktionieren.
Die Kindheitsschilderungen haben mich tief bewegt, denn fast hat man den Eindruck als wenn die Kinder sich für ihre Existenz entschuldigen müssen.
Ditlevsen erzählt all dies mit einer Sprachgewalt, die den Leser umhaut. Die wenigen, eingestreuten Gedichte im Buch haben mich verzaubert.
In meinen Augen erschafft Ditlevson ein authentisches Bild der 20er, die eben nicht überall und für jeden golden waren.
Fazit: Eine Besonderheit, die nun zu Recht endlich auch den Weg in eine deutsche Übersetzung gefunden hat. Klare Leseempfehlung!
„Irgendwann möchte ich all die Wörter aufschreiben, die mich durchströmen. Irgendwann werden andere Menschen sie in einem Buch lesen und sich darüber wundern, dass ein Mädchen doch Dichter werden konnte.“ (Zitat Pos. 287)
Inhalt
In diesem ersten Teil der Kopenhagen-Trilogie schildert die Autorin Tove Ditlevsen ihre Kindheit in Vesterbro, einem Vorstadtviertel von Kopenhagen. Tove wächst in einer kleinen Wohnung in einem Hinterhaus in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Der Vater wird arbeitslos und verfällt in Schweigen, doch er vermittelt Tove schon früh die Liebe zu Büchern. Die Mutter zieht den älteren Bruder Edvin vor und hat kein Verständnis für Tove, die unbedingt Schriftstellerin werden will.
Thema und Genre
In ihren autobiografischen Erinnerungen schildert die dänischen Autorin ihre Kindheit, das Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie im Kopenhagen der 1920er Jahre, ihr Anders-sein, ihre Ängste, aber auch die unterschiedlichsten Bewohner in dem Umfeld der Istedgade.
Charaktere
Die nachdenkliche Tove ist eine Außenseiterin. Schon vor der Einschulung kann sie lesen, schreibt bald erste Gedichte und auch alltägliche Eindrücke formen sich in ihren Gedanken sofort zu einer Fülle von Wörtern. Ihre Freundin Ruth dagegen ist aufgeweckt, frech und zeigt Tove die Stadt der Erwachsenen.
Handlung und Schreibstil
Ehrlich und offen schreibt die Autorin über das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter, die den Bruder Edvin der verträumten, unsicheren Tove vorzieht, die ärmlichen Verhältnisse im Arbeitermilieu der 1920er Jahre. Tove ist eine genaue Beobachterin und versucht, die Welt der Erwachsenen zu verstehen. Daraus ergibt sich eine berührende Mischung zwischen den Ängsten und Konflikten des Heranwachsens und humorvollen Erlebnissen und Eindrücken. Ihre Liebe zu Büchern teilt sie mit ihrem Vater, doch ihre Träume, Schriftstellerin zu werden, behält sie für sich, nachdem auch ihr Vater ihr erklärt hat, dass ein Mädchen kein Dichter werden kann.
Fazit
In ihrer präzisen, klaren Sprache führt uns die Autorin in die Stadt Kopenhagen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und schildert beeindruckend das Leben von Frauen und Kindern der Arbeiterklasse.
"Dunkel ist die Kindheit ... "
Was macht man, wenn man weder den Klappentext wiederholen noch andere Rezensionen zitieren mag? Man zitiert die Autorin dieses starken autofiktionalen Romans selbst:
„Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann.“
S. 33 (Kapitel 6)
„Dunkel ist die Kindheit, und sie winselt wie ein kleines Tier, das man in einen Keller eingesperrt und vergessen hat.“
S. 36 (auch Kapitel 6)
"Da ich mir meine zunehmende Schwermut nicht erklären konnte, dachte ich, jetzt hätte die 'weltweite Depression' auch mich befallen."
Seite 79, Kapitel 12)
„... und ohne, dass ich es weiß, sinkt meine Kindheit leise auf den Grund der Erinnerungen, dieser Seelenbibliothek, aus der ich bis an mein Lebensende Wissen und Erfahrungen schöpfen werde.“
S. 119 (Kapitel 18 und letzter Satz)
Dieses Buch ist so voller Trauer, Stärke und Poesie, ich kann es kaum erwarten, die anderen beiden Bände der Trilogie zu lesen. Nicht alle Kapitel empfand ich als gleich stark, mich hat vor allem Kapitel 6 berührt.